Entscheidungen SG Dresden

Urteil SG Dresden v. 18.03.2014

Durchsetzung GdB 50 bei OP.-Schäden nach Brustkrebs-OP., sekundären chronischen Rückenschmerzen infolge von Narbenzügen nach Latissimus-dorsi-Plastik und reaktiver Depression

Vorgeschichte

Frau Meier (Name geändert) sieht schon immer schlecht. Zu der Kurzsichtigkeit (Myopie) kommen weitere Sehbeschwerden mit Schlieren vor den Augen hinzu. Der Augenarzt stellt Glaskörpereinblutungen und eine poröse Netzhaut mit beginnenden Netzhautablösungen fest. Bzgl. der Myopie wird ihr von den Augenärzten zuerst von einer Laserbehandlung abgeraten, dann wird der Eingriff doch durchgeführt. Seitdem sind die Augen trocken und schmerzhaft. Die Sehbeschwerden verstärken sich, so dass am Augenhintergrund ein Ring zur Befestigung der Netzhaut eingelegt wird (Zerklage).

Einige Monate danach wird eine knapp tennisballgrosse Schwellung im Bereich der linken Leistenbeuge festgestellt. Histologisch findet sich Lymphdrüsenkrebs (Non-Hodgkin-Lymphom), der mittels Bestrahlung behandelt wird. Die Bestrahlung bezieht sich auf den Unterleib, auf den Hals und auf den oberen Bereich des Brustkorbs.

Etliche Monate später diagnostizieren die behandelnden Frauenärzte an der rechten Brust einen Tumor. Es handelt sich um eine Krebs-Vorstufe (DCIS).

Der Operateur empfiehlt, dass die rechte Brust entfernt werden soll und dass in der gleichen OP. eine Aufbauplastik hergestellt werden soll indem Rückenmuskeln nach vorn gezogen werden (sogen. Latissimus-dorsi-Plastik).

Im Schnellschnitt während der OP. findet sich kein bösartiges und kein krankhaftes Gewebe. Dennoch werden die Total-OP. und die Plastik durchgeführt. Einige Tage nach der OP. trifft der abschließende histologische Befund ein, in dem festgestellt wird, dass doch DCIS-Gewebe gefunden wurde und dass der Abstand des Schnittrandes zwischen DCIS-Gewebe und gesundem Gewebe nur 1mm beträgt.

In der S3-AWMF-Leitlinie zur Behandlung des Brustkrebses v. Juli 2012 wird aufgrund des fehlenden Überlebensvorteils und der Einschränkung für die Lebensqualität bei günstiger Relation zwischen Ausdehnung der Läsion und der Brustgröße ein brusterhaltendes OP.-Verfahren empfohlen (Seite 69). Dabei wird eine segmental ausgerichtete Resektion empfohlen (ebda.). Weiterhin ist vorgesehen, dass mindestens 2mm im Gesunden geschnitten werden soll (Evidengrad 2b; Seite 70): Interdisziplinäre S3-Leitlinie für die Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms. AWMF Reg. Nr. 032-045OL, Langversion 3.0, Aktualisierung 2012.

Das Landratsamt teilte Frau Meier nach einiger Zeit mit, dass jetzt die Heilungsbewährung eingetreten sei, so dass der bisherige Grad der Behinderung (GdB) von 70 nicht mehr ausgewiesen sei.

Frau beschwerte sich erfolglos und machte deshalb per Klage geltend, dass die Brustplastik nicht geglückt sei und zu schwerwiegenden chronischen Schmerzen geführt hat. Die Bestrahlung habe zu rezidivierenden Erschöpfungszuständen geführt (Fatique-Syndrom). Inzwischen sei auch noch eine Depression hinzugekommen.

Das Landratsamt teilte nach zweimaliger Befragung seines Ärztlichen Dienstes mit, dass dafür keine Grundlage bestünde, so dass ein GdB von nunmehr 50 nicht gerechtfertigt sei. Der Kommunale Sozialverband als Widerspruchsbehörde wies den Widerspruch ebenfalls zurück.

Im Oktober 2012 beantragte Frau Meier über ihren Anwalt, einen Gutachter nach § 109 SGG einzusetzen. Das Gericht fragte mit Posteingang v. 04.06.2013 beim Gutachter an. Der Gutachter berichtete dem Richter am 10.06.2013 nach erster Sichtung von 294 Seiten der Gerichtsakte, dass eine fachübergreifende Begutachtung erforderlich sei, in die mehrere Organsysteme einbezogen werden. Nach Zusage des Richters v. 05.09.2013 und Untersuchung der Klägerin am 20.10.2013 konnte am 24.10.2013 ein Gutachten vorgelegt werden.

Gutachten

Gutachterlich konnten mehrere Befunde der behandelnden Frauenärztin, von Chirurgen, Radiologen und Physiotherapeuten vorgelegt werden, die schwerwiegende chronische Schmerzen im Bereich des Rückens bestätigten. Die fehlgeschlagene plastische OP. hat am Rücken eine lange Narbe hinterlassen, die von der Mitte des Rückens oben nach außen rechts bis in den Lendenbereich verläuft. Die Narbe ist deutlich druck- und berührungsempfindlich. Unterhalb und oberhalb der Narbe ist es zu deutlichen Schwelllungen und zu einem deutlichen Muskelhartspann gekommen. Im Bereich der Wirbelsäule sind Achsenabweichungen, Bandscheibenvorfälle und Bestrahlungsfolgen nachweisbar und der rechte Arm konnte zeitweilig gar nicht angehoben werden. Jetzt ist die Bewegung des rechten Armes mit Schmerzen verbunden. Trotz der ständigen Verordnung von Schmerzmitteln und regelmäßiger intensiver Physiotherapie sowie nach einer Reha-Kur konnte kein schmerzfreier Zustand erreicht werden.

gutachten2014 Schmerzhafter Narbenzug am Rücken mit sekundärem Muskelhartspann nach Latissimus-dorsi-Plastik, mit der eine plastische Rekonstruktion der rechten Brust versucht worden war.

Die Augenschmerzen konnten durch bisherige Behandlungen mit Augentropfen nicht beeinflusst werden. Gutachterlich wurde darauf hingewiesen, dass trockene Augen nach Laser-OP. der Hornhaut des Auges eine bekannte Komplikation darstellen (Fuchsluger A et al.: Neurotrophe Keratopathie – Ein Fallbeispiel nach LASIK. Klin Monatsbl Augenheilkd 2005, 222 (11): 901-904. Nettune GR: The Ocular Surface. July 2010, 8/3: 135-145 in: Eberle M: http://www.das-trockene-auge.info/2010/12/lasik-und-das-trockene-auge-html ).

Die behandelnden Psychologen bestätigten auf der Grundlage der aktuellen Beschwerden sowie auf Grund entsprechender Fragebögen eine Depression mit psychologischem und medikamentösem Behandlungsbedarf.

Urteil

Im Urteil vom 18. März 2014 wurde festgestellt, dass der Klägerin ein GdB von 50 zusteht, ab dem Zeitpunkt, ab dem durch den Gutachter mehrere Konsultationen bei Psychologen nachgewiesen werden konnten.

In der Begründung des Urteils heißt es:

„Die Klage ist im tenorierten Umfang begründet, da die Klägerin aufgrund der bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen und der damit verbundenen Gesundheitsstörungen und der damit verbundenen Einschränkungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft ab … Anspruch auf Feststellung eines GbB von 50 hat.“

„Im Übrigen ist die Verpflichtungsklage entscheidungsreif und dient der endgültigen Streitbeilegung, so dass die Verpflichtungsklage ohnehin statthaft ist (BSG, Urt. v. 15.08.1996 – 9 RVs 10/94, zitiert nach juris).“

„Die Kammer hat insoweit keinen Anlass zum Zweifel an den gutachterlichen Ausführungen. An der medizinischen Fachkunde sowie der Unparteilichkeit des Sachverständigen bestehen für die Kammer ebenfalls keine Zweifel. Die Gutachten wurden in vollem Umfang, insbesondere hinsichtlich der Befunderhebung, der würdigenden Bewertung der Vorgeschichte und der erhobenen Befunde, sowie der Beurteilung der vorgetragenen Beschwerden sorgfältig und sachkundig erstellt, und somit für überzeugend befunden. Die Gutachten sind insoweit standardgemäß und objektiv unter Anwendung der medizinischen Diagnosen erhoben und weisen keine Logik- oder Denkfehler auf.“

„Der Verlust der rechten Brust mit der entsprechenden Aufbauplastik ist mit einem GbB von 30 zu bewerten, wobei der Sachverständige zur Überzeugung der Kammer durch die Formulierung „mindestens 30“ fetsgestellt hat, dass sich diese Beeinträchtigungen an der Schwelle zu einem GdB von 40 befinden.“

Gemäss Ziffer 14.1 des Teils B der Anlage zu § 2 VersMedV sei hierfür zwar ein GdB von 10-20 vorgesehen. „Funktionseinschränkungen im Schultergürtel, des Armes oder der Wirbelsäule als Operations- oder Bestrahlungsfolgen (z.B. Lymphödem, Muskeldefekte, Nervenläsionen, Fehlhaltung) sind hierbei jedoch ausdrücklich zusätzlich zu berücksichtigen.“

„Neben den ästhetischen Beeinträchtigungen erlangen an dieser Stelle GdB-erhöhend Beeinträchtigungen der Beweglichkeit und der nervlichen Empfindsamkeit Bedeutung. Bereits aufgrund des asymmetrischen Operationsergebnisses ist der vorgegebene GdB-Rahmen auszuschöpfen und in Bezug auf die dargelegten Bewegungseinschränkungen, Schmerzen und die Vernarbungserscheinungen zu erhöhen.“

„Die Funktionseinschränkungen im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche sind mit einem GdB von 30 ab … zu bewerten, wie der Sachverständige zur Überzeugung der Kammer ausgeführt hat. Ab diesem Zeitpunkt wurde regelmäßig entsprechende ärztliche Behandlung aufgesucht.“

Die Beeinträchtigungen infolge der Brustoperation und zusätzlicher Beeinträchtigungen im Bereich des Unterleibs (die im Gutachten und im Urteil im Detail genauer dargestellt und bewertet wurden) „betreffen das Funktionssystem Geschlechtsapparat, das jedenfalls unter Berücksichtigung des GdB von 30 an der Schwelle zu 40 für den Verlust der rechten Brust mit den zahlreichen begleitenden Beeinträchtigungen und einem weiteren Leiden für sich betrachtet bereits mit einem GdB von 40 zu bewerten ist. Durch die ab … nachgewiesenen Beeinträchtigungen des Funktionssystems Gehirn einschließlich Psyche wird ein Gesamt-GdB von 50 erreicht.“

Das Fatique-Syndrom neben den depressiven Beschwerden und die schmerzhaften Bewegungseinschränkungen allgemein und des Schultergürtels würden keine eigenständige Teilhabebeschränkung darstellen. Die Sehbeeinträchtigungen führten lediglich zu einem GdB von 10, der sich nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB auswirkt, zumal die VersMedV beim Funktionssystem Augen keine Teilhabebeeinträchtigung infolge von Bindehauttrockenhaut vorsehen würde.-

Zusammenfassung

Frau Meiers Hartnäckigkeit hat sich gelohnt. Mit anwaltlicher, gutachterlicher und gerichtlicher Unterstützung konnte sie den angestrebten GdB durchsetzen. In weiteren Verfahren zu klären, ob Behandlungsfehler vorgelegen haben, hat sie nach diesem langen Verfahren keine Kondition. Ob noch eine Operation im Bereich der schmerzhaften Narbenzüge am Rücken erforderlich wird, bleibt offen.

Pflicht der Krankenkasse, die Kosten für eine Sehhilfe zu übernehmen: SG Dresden Urteil v. 23.11.2011, Az.: S18 KR 597/08 (Quelle: Anlage 2 zur Presseinformation SG Dresden v. 24.02.2012)

Übernahme der Kosten für die Neubeschaffung eines Elektrorollstuhls durch die Krankenkasse: SG Dresden Urteil v. 31.08.2011, Az.: S 18 KR 312/09 (Quelle: ebda.)

Grundsatz der optimalen und nicht nur der wirtschaftlichen Rehabilitation im Unfallversicherungsrecht (im Ergebnis der medizinischen Begutachtung sind deutliche Vorteile durch eine modernere Oberarmprothese zu erwarten, so dass die beklagte Berufsgenossenschaft verurteilt wurde, die modernere Prothese zu finanzieren): Gerichtsbescheid SG Dresden v. 28.03.2011, Az.: S5 U 267/07 (Quelle: ebda.)

Die Finanzierung der behindertengerechten Ausstattung eines Arbeitsplatzes ist vorrangig Aufgabe des Rehabilitationsträgers. Der Anspruch schwerbehinderter Menschen gegenüber ihrem Arbeitgeber ist demgegenüber nachrangig: SG Dresden Urteil v. 28.02.2011, Az.: S 24 KN 625/09 (Quelle: ebda.)